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Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Werner Brück: Buchbesprechung: Rancière, Jacques: Das ästhetische Unbewußte. Zürich, Berlin, 2006.

In Jacques Rancières Büchlein über »Das ästhetische Unbewußte«(Rancière, Jacques: Das ästhetische Unbewußte. Zürich, Berlin, 2006.) haben literarische, bildkünsterische und musikalische Gestalten nicht bloß »Sinn«. Vielmehr sind sie »Zeugnisse für die Existenz einer bestimmten Beziehung zwischen Denken und Nichtdenken, einer bestimmten Art von Präsenz des Denkens in der sinnlich spürbaren Materialität«.(S. 8.)

Rancière beschäftigt sich mit dieser Aspektierung, weil er, sich auf Sigmund Freud beziehend, der Frage nach unbedeutend scheinenden »Fakten, die von [...] positivistischen Kollegen vernachlässigt wurden [; als] [...] Beispiele für [Freuds] [...] Beweisführung [, dadurch] [...] daß sie selber Zeugnisse für ein bestimmtes Unbewußtes sind«, nachgeht.(S. 8.) - Gerade mit einem in sich widersprüchlichen Konzept eines »bestimmten Unbewußten« lässt sich u.E. jedoch beliebiges anstellen, z. B. die Herausarbeitung einer vermeintlichen menschlichen Grundhaltung aus Aspekten der künstlerischen Produktivität.

Doch bleibt Rancière vorerst an den Grenzen des Sag- und Denkbaren. Freud stehe für »eine bestimmte Identifikation mit einem unbewußten Modus des Denkens«, »außerhalb des im eigentlichen Sinne klinischen Bereichs«.(S. 8.) Vor allem Literatur und bildende Kunst lieferten hierzu als Anhaltspunkte. In diesem Zusammenhang möchte Rancière das von ihm reformulierte »ästhetische Unbewußte« mit dem Freudschen Unbewußten vergleichen.(Vgl. S. 33.)

Weil sich »Ästhetik« nur bedingt zur ontologischen Spekulation eigne,(Vgl. S. 9.) definiert Rancière den Begriff neu. Sie gilt ihm als »Modus des Denkens, der sich anhand von Gegenständen der Kunst entfaltet und sich bemüht zu sagen, inwiefern sie Gegenstände des Denkens sind«.(S. 9.) Kunstwerke führten »ein Denken dessen, was nicht denkt« aus.(S. 10.) Hierin sieht Rancière den Grund für Freuds Beschäftigung mit Kunstwerken. Das »Freudsche Denken des Unbewußten«,(S. 10.) i.d.S. dass harmlose Details in Kunstwerken »eine gedankliche Sprengladung« enthielten,(S. 8.) als »Sinn im Sinnlosen«,(S. 8.) als »Zeugnisse für ein bestimmtes Unbewußtes«,(S. 8.) sei »nur auf der Grundlage dieses Denkregimes der Kunst« möglich, dass Kunst als Nichtdenken ja schließlich doch noch denke.(S. 10.)

Zum Begriff des »Denkregimes« später. Zunächst stellt sich uns die Frage, inwiefern sich für Rancière resp. Freud ästhetisches Denken »anhand von Gegenständen der Kunst entfaltet«:(S. 9.) u.E. überhaupt nicht, solange in der Hauptsache künstlerische Produktivität als künstlerisches Nichtdenken, als Am-Werk-Sein mitsamt seiner artikulativen Faktizität, Notwendigkeiten und Perspektiven, mit deren Zusammenfassung und Theoretisierung, mit bloßer Nacherzählung und aufgepfropfter Poetologie verwechselt wird. Was v.a. in Frankreich Tradition hat. als Grundlage einer Rancièreschen Verbindung französischer Kunst zu den Theoretisierungen Freuds.

Der Dichtungstheoretiker Jean Chapelain, im Hauptberuf Abbé, sprach ebenfalls nur über verallgemeinernde Stoffzusammenfassungen, beeinflusste damit sogar die französischen Akademiediskurse des 17. Jahrhundert. Chapelain Besprechung des »Adone« aus der Feder des Giambattista Marino, ein »poème de paix«, handelt zu einem Drittel vom »sujet«, von der Fabelkonstitution, und zu einem Siebentel vom »style«. Die Auslassungen über den sprachlichen Ausdruck, »la locution« und »la diction«, nehmen nur den fünfzehnten Teil des Textes ein.(Vgl. Chapelain, Jean: Lettre ou Discours de Monsieur Chapelain à Monsieur Favereau, Conseiller du Roi en sa cour des Aides, portant son opinion sur le poème d'Adonis du Chevalier Marino. -in: Hunter, Alfred (Hrg.): Jean Chapelain. Opuscules Critiques. Genf, 2007. S. 185-221. S. 200 u. S. 213.) In seiner Invektive gegen Pierre Corneille schließlich geht es Chapelain nur im siebzehnten Teil um die Literazität, um die sprachliche Produktivität des »Cid«.(Chapelain, Jean: Les sentiments de l'Académie francaise touchant les observations faites sur la tragi-comédie du Cid. -in: Hunter, Alfred (Hrg.): Jean Chapelain. Opuscules Critiques. Genf, 2007. S. 281-316.) - Auch Rancière reibt sich an Pierre Corneille. Doch bei Rancière findet sich überhaupt keine Aussage zu distinkten Eigenschaften literarischer Kunstwerke. Rancières Behandlung der Ödipus-Bearbeitung Corneilles ist lediglich eine Stoffzusammenfassung.(S. 13f.) Keinerlei Herleitung eines Nichtdenkens aus dem Sinnlichen. Und so verwundert es nicht, dass sich der Sinn des Dramas für Rancière nur sehr allgemein darstellt. So schreibt er: »Eine Liebesgeschichte erzeugt Spannung, indem sie die Verteilung des Wissens und der Gewißheit über die Auflösung steuert.«(S. 14.) Klang, Lautung, die Artikulation des Sprechers und dessen Körpers auf der Bühne: alle diese für das jeweilige Einzelwerk ausschlaggebenden Aspekte werden in den Dienst der Spannungserzeugung im Aktandenmodell gestellt, die somit als das eigentliche künstlerische Problem zu gelten hat, an dem unterschiedliche Dramatiker sich abarbeiten sollen: »Sechzig Jahre später stieß ein anderer Dramatiker [Voltaire] auf das gleiche Problem und löste es in gleicher Weise«( S. 15.) - Doch auch zu Voltaire kann Rancière nur über Sujet und Plot, über das Aktandenmodell berichten.

Die Auffassung, dass Stoffzusammenfassungen und Aktenmodelle Distinktionen der Kunst seien, beschränkt Kunst auf narrative Sujetierung, wodurch z.B. ein Werk Paul Cézannes oder Georg Trakls in Rancières resp. Freuds Theoriebildung unfassbar würde. Daher spricht Rancière über Dramatik, nicht über Lyrik. Dagegen möchte z.B. Hayden White in der Produktion von Sinn dessen Form berücksichtigt haben, denn »eine Veränderung der Form des Diskurses [ist] nicht gleichbedeutend mit einer Veränderung der Information über seinen textexternen Referenten [...]; mit Sicherheit aber würde dadurch der von ihm produzierte Sinn verändert.«(White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main, 1990. S. 57f.) - Rancières Vorgehen hat hingegen den pragmatischen Vorteil, dass das Künstlerische, das Kunstwerke vollständig individuiert, auf der Ebene abstrakter Kategorisierung vergleichbar hält. So bleibt Kunst untertan, beispielsweise in der Spekulation über decorum und convenientia. Insbesondere versucht Rancière das Unbewusste, das er ja nicht greifen oder reformulieren kann, ohne dass es bewusst würde, mithin seine Distinktion des Unbewussten verlöre, durch das Nichtschickliche im Rahmen eines im zeitgenössischen Denkregime paradigmatischen Aktandenmodell zu substituieren,(S. 15.) durch etwas, was sich im gesellschaftlichen Bewusstsein einer Zeit nicht gehörte.(Vgl. S. 16.) - Dagegen steht allerdings die fachwissenschaftliche, die poetologische Erkenntnis, dass die Verschlagwortung des Schicklichen, ihr zugrundeliegend die Unterscheidung von »prodesse et delectare« als Nutzen und Ergötzung, schon seit der Renaissance eine »Erosion zentraler Begriffe der [Aristotelischen] Poetik« darstellte.(Kappl, Brigitte: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Berlin, New York, 2006. S. 168.)

Rancières Text bleibt hinreichend abstrakt, um jeglichen plausiblen Bezug auf real existierende Kunstwerke missen zu lassen. Das liegt an den fehlenden Werkanalysen. Es findet kein Studium derjenigen Kunstwerke als Primärquellen statt, um die es doch gehen soll. Und doch kann nur so die finale Utilität der Diskursbestimmung, der die akzidentell überlieferten Sekundärquellen unterliegen, als Denkregime herausgestellt werden. Denn Theoretisierungen über das Schickliche bieten diese vor allem eine »Ordnung des Repräsentationssystems, das die dramatische Schöpfung normiert«.(S. 16.) - 1630 schrieb Chapelain, so fügen wir an, über den öffentlichen Auftrag des Dramas gegenüber der Zivilgesellschaft, bloße Vergnügung, »l'art pour l'art« erhöhe den »dégoût dans l'esprit [derjenigen] qui savent discerner les faux plaisirs d'avec les véritables«. Das »plaisir rustique« stelle gegenüber dem sittlichen Nutzen der Dichtung ein »affaiblement du théâtre« dar; Regelkonformität würde nur abgelehnt von »idiots et [...] cette racaille qui passe en apparence pour le vrai peuple«.(Chapelain, Jean: Lettre sur La Regle des Vingt-Quatre Heures. -in: Hunter, Alfred (Hrg.): Jean Chapelain - Opuscules Critiques. Genf, 2007. S. 222-234. S. 232.) Wie weit diese Normierung des »Schicklichen« ging, zeigt sich darin, dass Chapelain und vor ihm viele andere Renaissancepoetiker deskriptive Kriterien der Aristotelischen »Poetik« wie z.B. die der Katharsis und der Schicklichkeit als Norm missbrauchten.(Vgl. Söffing, Werner: Deskriptive und normative Bestimmungen in der »Poetik« des Aristoteles. Amsterdam, 1981.) Doch entsprechen diese Normierungsversuche weder der zeitgenössischen Produktion, noch deren Rezeption, noch dem Interesse des Publikums.(Vgl. Scherer, Jacques: La dramaturgie classique en France. Paris, 1973.) Die Theoretiker erörterten in der »Querelle du Cid« der Frage, was daran schicklich sein könne, dass in Pierre Corneilles »Cid« die Königstochter den Vatermörder nicht nur heiraten soll, sondern überdies auch heiß und innig liebt. Corneille - und sein Publikum - foutierte sich darum. »Le même Aristote nous autorise à eu user de cette manière, lorsqu'il nous apprend que ›le poète n'est pas obligé de traiter les choses comme elles se sont passées, mais comme elles ont pu ou dû se passer, selon le vraisemblable ou le nécessaire.‹«(Forestier, Louis (Hrg.): Pierre Corneille. Trois discours sur le poème dramatique. Paris, 1963, S. 87. Vgl. Aristoteles, Poetik (1982), 9, 1451a, S. 29. Zur »opinion commune«: Corneille, Discours (1660/1963), S. 105ff, in Bezug auf Aristoteles, Poetik (1982), 9, 1451a, S. 29ff sowie 25, 1460b, S. 85ff.) Dass Rancière Corneille als Handlanger des Chapelainschen Schicklichkeitskonzeptes versteht, ist u.E. gewagt: Corneille war der schärfste Kritiker Chapelains, schon 1639/1640, denn die Schicklichkeit des »Cid« revoltiert ja gegen das »Denkregime« des Salons, aber auch noch 1660/1663, als Corneille in den »Discours« den »Cid« verteidigte, nach dem »Œdipe« von 1658. - Man hätte sich hier auch eine eingehendere Analyse des »Œdipe« gewünscht. Zumal Corneille die sog. Einheitenlehre ebenso wie die klassizistischen Forderungen an Plot und Aktandenmodell durchaus als künstlerische Herausforderungen anzunehmen wusste.

Man kann jetzt lange hin und her diskutieren und Kontinuitäten oder Brüche suchen. Genereller lässt sich hingegen behaupten, dass, wenn sich Dominanzdiskurse und deren künstlerischen Gegen- und Alternativentwürfe simultan Bahn brechen, in Permanenz, sich dann kein eigentlicher Gegensatz von »Denkregime« und »Revolution« mehr konstruieren lässt. Zwar könnte man noch meinen, Rancières Ansatz zeige eine paradigmatische Kontinuität als Beispiel oder Vorlage für beliebige andere, doch die infinite Individuation künstlerischer Produktivität vor dem Hintergrund und innerhalb des Umgrundes aus Simultaneitäten diskreditiert superiorisierte und determinative Strukturbildungen zugunsten eher pluralistischer Ansätze.

Dagegen versteht Rancière »Kunst« als problemorientierendes Denkregime. Und somit ist die Revolution gegen dieses Denkregime ebenfalls problemorientierend. Ästhetische Revolutionen stellen für Rancière die Abschaffung tradierter Aktandenmodelle dar.(Vgl. S. 19.) Diese wird sogleich hypostasiert, als »Abschaffung eines geordneten Ganzen von Bedingungen zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, Wissen und Handeln, Aktivität und Passivität.«(S. 19.) Dem liegt ein entwicklungsgeschichtliches Modell teleologischen Charakters zugrunde, wie so oft: »Damit Ödipus zum Helden der psychoanalytischen Revolution werden kann, braucht man einen neuen Ödipus, der die Ödipusgestalten von Corneille und Voltaire absetzt und [...] wieder an das tragische Denken von Sophokles anzuknüpfen beabsichtigt.«(S. 19.) Dieser Ödipus scheint für Rancière Nietzsche zu sein, das betreffende »Kunstwerk« die »Geburt der Tragödie« bzw. die Dramen, die darin behandelt werden, was natürlich die Trennung der Objektebene von der Metaebene verunklart, auch wenn ein Verständnis der »Geburt der Tragöde« als literarisches Kunstwerk einigen Charme aufweist.(Vgl. S. 19ff, Colli, Giorgio; Montinari, Mazzino (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. München, Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, 1982. KSA I,13.)

Rancière sieht bei Nietzsche ein neues Denkregime der Kunst formuliert: die »Identität einer bewußten Entwicklung und einer unbewußten Produktion, einer gewollten Handlung und eines ungewollten Prozesses, kurz, die Identität eines logos und eines pathos zu sein.«(S. 23.) Kunst gilt so als »Immanenz des logos und im pathos, des Denkens im Nichtdenken, oder umgekehrt als Immanenz des pathos im logos, als Nichtdenken im Denken.«(S. 23.) Mit der Verlagerung des Diskurses über Kunst auf die Ebene des bloßen Aktandenmodells werden allerdings erneut Diskursebenen verwechselt. Nietzsche versteht unter dem Dionysischen als Auflösung individuierter Ordnungen mitnichten die Auflösung des Kunstwerkes selbst bzw. dessen logos. Mithin geht es Nietzsche weniger um die Auflösung eines Denkregimes der Kunst, sondern um die Formulierung eines andersartigen Aktandenmodells in der Kunst und im menschlichen Tun schlechthin, weshalb Nietzsche Sophokles mit Euripides verglich.(Vgl. Nietzsche, KSA I, S. 66ff.) Abgesehen davon stellt, und das geht ja auch bei Rancière hervor, die »Geburt der Tragödie« ihrerseits ein Kunstwerk dar, mit dem impliziten Autor als Ödipus-Gestalt, der die Revolution gegen das tradierte literarische Denkregime vollzieht.

Angesichts der mannigfachen Vermischung der Kommunikations- und Diskursebenen täte den Ausführungen Rancières systematisierende Klarheit gut. - Rancière würzt indes mit Hegel nach: Kunst sei ein Versuch des Geistes, sich zum Ausdruck zu bringen.(S. 23.) Die Unkenntlichmachung der literarischen Dimension des Textes, die Verwischung der narrativen Strukturbildungen der Texte, die Beschränkung auf zusammengefasste Aktandenmodelle, die nurmehr wenig Bezug auf die literarische Produktivität des Textes haben, die Reduktion des Künstlerischen auf einen Beitrag zur problemorientierenden Entwicklungsteleologie: dies alles findet Sinn in einer metaphysischen Entität, dem Hegelschen Geist, dem in der Folge beliebig Intentionalität im Denken - und im Nichtdenken - untergeschoben werden kann.(Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. 3 Bde. o.O., 1835-1843, Geist als Finalität der Kunst.) Es ist gerade das ausschließlich extensionale statt intensionale Verständnis des Apollinischen und des Dionysischen , die eine Ontologisierung zu Wissen und Nichtwissen, Denken und Nichtdenken im Kunstwerk nach sich zieht. Man kann durchaus die apollinischen wie dionysischen Züge eines Werkes reformulieren, wie man individuierend wie triebhaft über ein und dasselbe Werk reden kann, so, wie Nietzsche resp. der implizite Autor der »Geburt der Tragödie« über »Ödipus auf Kolonos« spricht.(Nietzsche KSA I, S. 65ff.)

Das erkennt auch Rancière. Es sei gerade die apollinische Qualität künstlerischer Individuation, die das Dionysische formuliere, »und zwar gerade in den Formen, die vorgeben, sie zu verleugnen«.(S. 24.) Doch führt diese starke Konturierung zu dem in der französischen Poetologie so populären Topos der »stummen Sprache«,(Vgl. S. 25ff.) den er von seiner traditionellen Dimensionierung im Rahmen der »ut pictura poesis«-Thematik überführt in einen soziologisch anmutenden Idealismus. »Das Schreiben ist nicht nur eine Ausdrucksform des Wortes, sondern vielmehr eine Idee vom Wort selber und von der ihm innewohnenden Kraft.«(S. 25.) Schriftzeichen zeugen, so Rancière, unabhängig von der Extension oder Intension auf ihre Gegenstände, von der Existenz einer sozialen bzw. gesellschaftlichen Verwendung.(S. 28.) Sie seien »Überreste, Fossilien [...] Zeichen, die von einer Welt zeugen und eine Geschichte schreiben.«(S. 28.) Eine »stumme Schrift der Dinge«.(S. 28.) Und als Schrift, Sprache, Zeugnis dokumentierten sie einen überindividuellen Willen: »Der Wille«, und als solcher allen Dingen inhärent, »ist die Krankheit des Denkens, das sich in Realität umwandeln will und Individuen und Gesellschaft«, also das jeweilige Denkregime, »zu ihrer Zerstörung bringt«.(S. 29.) Folglich sei der Schritt von logos zum pathos jener »zum reinen Existenzschmerz und zur reinen Reproduktion der Sinnlosigkeit des Lebens«. (S. 29.) Anhand Maeterlincks dramatischer Artikulation impliziter Figuren, die nicht explizit konkretisiert werden(Vgl. S. 30.), dies als weitere Form der stummen Sprache, entwickelt Rancière ein Begriff des »ästhetischen Unbewußten«, als Artikulation der »auf den Körper geschriebene[n] Sprache« in ihrer wiederherzustellenden Signifikation und der »taube[n] Sprache einer namenlosen Macht, die sich hinter jedem Bewußtsein und jeder Signifikation verbirgt«.(S. 31.) Damit ist die stumme Sprache der Dinge als das ästhetische Unbewußte sowohl als Zeugnis bzw. Indiz für das Regime bzw. die Revolution, als auch als Ausdruck einer impliziten Figur als Träger dieses Willens im Kunstwerk präsent.

Brechen wir diese nun doch eher pragmatische Ontologie, die Rancière »Ästhetik« nennt, auf unsere bisherigen Erkenntnisse herunter: die Dinge sind da, also muss es eine Verwendung geben, von der aus auf einen impliziten Verwender geschlossen werden kann, als Träger der Intention, zu signifizieren, also Dinge als Signifikanten zu gebrauchen: das Regime, die Revolte.

Diese Hypothese des »ästhetischen Unbewußten« sieht Rancière bei Freud als Kennzeichen der »Beziehungen der Komplizenschaft und des Konflikts [...], die sich zwischen dem ästhetischen Unbewußten und dem Freudschen Unbewußten ergeben.«(S. 33.) Freuds Psychoanalyse gehe von der Mythologie, dem Volksglauben, der Traumdeutung aus und wende sich der Literatur zu, weil es darin das ästhetische Unbewußte gebe. Dort sei es vorhanden als »Denken, das nicht denkt«, als »stumme Zeichen«, »taube Worte«, als widersprüchliche Metaphern, und dieses Denken werde seit jeher als abgründig aufgefasst, als abnorm.(S. 34.) Rancière fragt sich deshalb, welchen Beitrag Freuds Psychoanalyse zur Kunstgeschichte beisteuert.(Vgl. S. 35.) Freud sehe Kunst als Zeugnis einer tieferen Rationalität und Phantasie, als Wissenschaften dies ergründen könnten, und hierin treffe sich Kunst mit Psychoanalyse.(S. 36.) - Wohingegen selbst Künstler Träumen und Phantasien nicht ausreichend Platz einräumten, so Freud in der Rancièreschen Darstellung:(S. 36f.) »Sie haben nicht klar genug Partei genommen für den signifikativen Wert dieser Phantasien, deren Bewegungen sie dargestellt haben.« (S. 37.) Diese Phantasien, Regime und Revolte, indiziert durch die stumme Sprache dessen, was (nicht) ist, sei nun immer an eine implizite Figur eines Willensträgers gebunden, der sich manifestiert, der agiert und zerstört, an den Helden: »Wenn Ödipus - der in seiner Folge den Zug der großen ödipalen Helden hinter sich her zog - im Mittelpunkt der Freudschen Überlegungen steht, dann deshalb, weil er das Sinnbild dieses Regimes der Kunst ist, das die Dinge der Kunst als die Dinge des Denkens identifiziert, und zwar als Zeugnisse eines Denkens, das seinem Anderen immanent ist und von seinem Anderen bewohnt wird, überall in der Sprache sinnlicher Zeichen geschrieben wird und in ihrem dunklen Kern verborgen.«(S. 38.) Rancière betont, dass es sich bei dieser Auffassung Freuds um einen bloßen Repräsentationalismus handelt, der Kunst nicht hinreichend gerecht wird.(Vgl. S. 45f.) Freud interessiere sich v.a. für kunsthistorisch vernachlässigte Aspekte, »Partialobjekte«, die »als unpassendes Detail [...] die Anordnung der Darstellung« stören,(S. 46.) womit Freud »der unbewußten Wahrheit zu ihrem Recht [...] verhelfen« möchte.(S. 46.)

Einen schlimmeren Albtraum kann sich ein Künstler wohl nicht vorstellen: da kommt einer, der sich alles das herauspickt, was seiner Meinung nach nicht passt, was wiederum zugrundelegt, alles Normale müsse sich schlüssig und wohl anordnen lassen; mithin sei künstlerische Individuation defizitär, Ausgeburt eines Phantasmas, das sich nicht anders als implizite zu helfen weiß. Nicht bewusst, dafür aber unbewusst und eigentlich gewollt, also nicht gekonnt. - Vielleicht spielt Freud daher in der Kunstgeschichte im Allgemeinen und in der Kunstwissenschaft im Speziellen gar keine Rolle. - Dabei könne Kunst, so Rancière über Freud, durchaus zur »Heilung« beitragen, durch den »Sieg des Willens und des Bewustseins, welche auf der Bühne der Tragödie [...] oder auf den Geschichtsgemälden durch irgendeinen römischen Helden verkörpert werden, der wieder Herr über sich selbst und die Welt geworden ist«,(S. 48.) während z.B. Leonardo »an sein Phantasma gebunden und in einem homosexuellen Verhältnis zum Vater erstarrt ist.«(S. 49.)

Auf den Folgeseiten handelt Rancière weitere, von Freud behandelte Aktandenmodelle ab, aus denen Freud psychoanalytische Erkenntnisse zieht, die an figuralen Typenbildungen festgemacht werden.(S. 51ff.)

Zum Schluss stellt er eine psychoanalytische Deutung Freuds gegen den vom Autor, hier Ibsen, spezifizierten »letzten Sinn«,(S. 55.) der für Rancière in diesem Beispiel in einer Realisierung des Dionysischen besteht.(Vgl. S. 55f.) Gerade dieses Beispiel - wie passend! - zeige, dass Psychoanalyse eigentlich gegen die Artung der Kunst verfährt, da sie kausalisiert und »eine positive Kraft der Wirkung des Wissens wiederherzustellen« versucht,(S. 56.) was natürlich der Rancièreschen Auffassung des ästhetischen Unbewussten widerspricht, das ja als Zeugnis v.a. des Dionysischen gelten soll, das er so explizit an Nietzsches Revolte gegen das Denkregime seiner Zeit herausgearbeitet hat. Daher sieht Rancière Psychoanalyse als »Mittel des Widerstands gegen [...] [das] nihilistische Entropiespiel [...], die Freud in den Werken des ästhetischen Regimes der Kunst aufspürt und verwirft und der er bei der theoretischen Fassung des Todestriebes dennoch zu ihrem Recht verhilft.«(S. 59.) Freud lehne »es ab, die Wirkungskraft des Gemäldes, der Skulptur oder Literatur mit Ratlosigkeit zu verbinden.«(S. 60.)

Was bleibt als Fazit? Rancière versucht, Freuds Beschäftigung mit dem vermeintlich Unbewussten in der künstlerischen Produktion zu verstehen. Dazu formuliert er ein ästhetisches Unbewusstes, das mit dem psychoanalytischen Unbewussten enggeführt wird. Weder für das psychoanalytische Unbewusste, noch für das »ästhetisch« sein sollende Unbewusste liefert Rancière Beispiele, die über eine stark verallgemeinerte Darstellung des Aktandenmodells bildlicher oder textueller Narrationen hinausreichen, und selbst hier werden noch alle möglichen Kommunikationsebenen, Figurkonzeptionen, Textgattungen durcheinander geworfen. Die Distinktionen der Künste spielen in dieser »Ästhetik« keine Rolle. Es werden weder Aufführung noch Textform des Dramas unterschieden, Sprache, Lautung, Grammatik, Farbe, Form: alles dies sind scheinbar vernachlässigbare Aspekte, die sich allenfalls in gefällige Anordnungen zu ergeben haben, sonst ist die Abweichung von der Rezipientenintention als pathologische Störung zu verstehen. Psychoanalyse, wie Rancière sie dargestellt hat, ist mit seiner vorgeblichen Bewusstmachung des Selbst immer auch eine Form der Infragestellung von Selbstbewusstsein durch Fremdeinfluss.

Auch Rancière versucht am Ende seines Büchleins, sich noch von Freud loszutreten. Indes: es will ihm nicht gelingen. Das Pathologische zu ersetzen durch einen Hegelschen Geist, der das Dionysische sucht, die Revolte gegen das Regime: das ist die Prokrastination von Kunst. Es gab diese Setzungen von Regime und Revolte im 17. Jahrhundert, es gibt sie anscheinend noch im 21. Jahrhundert, in Frankreich. Zum Glück waren es nur die Theoretiker, die sich so verausgabten, während sich die Kunstschaffenden wenig um solche Theoriebildungen kümmerten, sie allenfalls als eine Anregung unter weiteren aufnahmen.

Literatur

Werner Brück

Jg. 1971, Magister artium in Kunstgeschichte, Philosophie, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Saarbrücken. Promotion zu Erzählstrukturen in der Kunst des Nicolas Poussin. Schwerpunkte v.a. Bildkünstlerische Narrativität, Poetik, »Wechselseitige Erhellung der Künste« sowie Theorie und Geschichte der Fotografie.\

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